...Struktur. Denn gerade diese ist, wie
die jüngsten Erfahrungen mit dem „Ich wäre gern Orkan
geworden“-Wintersturm Xaver zeigen, in heutigen Gesellschaften auch
immer höchst anfällig für irrationale Störungen – besonders für
haus-, mensch- und mediengemachte. Früher war weniger Panik und in
diesem wohlmeinenden Sinne dürfen alle musikalischen
Strukturtraditionalisten bis zum letzten Teil dieser Kolumne getrost
auf Durchzug schalten.
Den Anfang machen die drei
Experimentalmusiker C. Spencer Yeh, Okkyung Lee und Lasse Marhaug mit
„Wake Up Awesome“ auf dem in Brooklyn, New York beheimateten
Label Software Recording Co. und liefern mit diesem Album ein
40-minütiges Manifest in Sachen Industrial Noize meets FreeJazz.
Mäandernd zwischen tatsächlicher Echtzeitimprovisation und
nachbearbeiteteten Studioaufnahmen erinnert „Wake Up Awesome“ in
kurzen Phasen an die verglitchten Variationen der legendären
„Ekkehard Ehlers plays Albert Ayler“-LP auf Staubgold, häufig
an hochdigitalen Lärm und hat in ruhigeren Passagen wie „Mission:
Nothing“ sogar rudimentär ambiente Züge, die natürlich umgehend
durch allerhand mahlende Distortion und lavaartig gewitternde White
Noise-Ausbrüche ad absurdum geführt werden. Heftiger Stoff für
klirrend kalte Winternächte.
Gesitteter, wenn auch nicht weniger
fern der Traditionsstrukur geht es auf den beiden aktuellen 3“
CD-Veröffentlichungen des Electroton-Labels zu. Beide auf jeweils
100 Stück limitiert, serviert Marek Slipek a.k.a. Cernlab mit seinem
Viertracker „Atomherz“ als Katalognummer 014 des Labels
hochgradig digitalisierten ElectroPhonk mit klar definierten
Spielereien im Stereofeld, die auch fortgeschrittene Dancefloorcrowds
dank ihrer sci-fi'esquen Bedrohlichkeit und zuweilen schizophren
wirkender Klänge in den wohlverdienten Wahnsinn zu treiben
verstehen, während ujif_notfound mit „Aneuch“ in drei Versionen
dem zu Unrecht aus dem musikalischen Fokus dieser Zeit gerückten
Clicks'n'Cuts-Genre zu neuer Aufmerksamkeit verhilft. Dabei
fusioniert er in Perfektion die präzisen Kleinstgeräusche digitaler
Kommunikation und klickernder Festplatten mit fliessend weichem
Ambient, der in dieser ausgereiften Form leider viel zu selten den
Weg auf physische Tonträger findet – erst echt nicht auf so
ansprechend minimalistisch geboxte, wie sie bei Electroton zum
ästhetischen Standard gehören.
Nach diesem kurzen Ausflug ins Land der
musikalischen Experimente und der aktuellen CD-Veröffentlichungen
auf diesem Gebiet, geht es mit dem Re-Release des Monats nicht nur
zurück zum schwarzen Vinylgold sondern auch ins Ethiopien der
1970er-Jahre, in dem Alemayehu Eshete sich als eine der grossen
Stimmen einer blühenden Jazz, Funk und Soul-Szene hervortat. Schon
in 2007 versammelte das Label L'Arome Productions zehn seiner in
Zusammenarbeit mit Girma Beyene oder Lemma Demmissew enstandenen
Songs unter dem Titel „Ethiopian Urban Modern Music Vol.2“ im
Rahmen der „Ethiopiques“-Serie, die nun dankenswerterweise wieder
auf Vinyl erhältlich ist und nicht nur exzessiven Cratediggern und
Samplefreaks einen faszinierenden Einblick in die Musik eines
lebendigen Nordafrika jener Jahre ermöglicht. Uneingeschränkt
empfohlen für einen Ausflug in Gefilde weit jenseits der rein
elektronischen Musik, die unsereins nahezu täglich umgibt.
Gastkolumne für Fazemag, Ausgabe 01/2014