Samstag, 19. September 2020

THERE'S MORE TO LIFE THAN...

… reality. Nicht nur, weil das Leben manchmal wie ein Film erscheint, in dem mensch zufällig auch selbst eine Rolle spielt, sondern weil spätestens die Diskussion um PRISM, Echelon und Tempora auch den weniger aufmerksamen Individuen unter uns eine Ahnung davon vermittelt haben, daß es da draussen eine Menge Dinge gibt von denen der Normalbürger nur kaum eine Ahnung hat und auch wir – ohne verschwörungstheoretische Gedanken befeuern zu wollen – zuweilen nur Statisten in einem Film sind, bei dem Andere Regie führen. Aus diesem Grund geht es in dieser Kolumne um Soundtracks resp. solche Veröffentlichungen, die eigentlich als solche prädestiniert sind oder vorgeben, Soundtrack zu sein – wenn auch in der Zukunft.

Eine ebensolche Veröffentlichung ist „The Mean“, das auf dem Tapelabel Voluntary Whores erschienene Album des Ambient- / Deep Listening-Projektes Wardrobe Memories. Limitiert auf 48 Exemplare weltweit handelt es sich hier angeblich um einen Soundtrack, der durch einen missglückten Zeitreiseunfall in der Vergangenheit – dem heutigen JETZT also – gelandet ist und mit seinen weltraumkalt-fliessenden Strukturen trotz weitgehender Beatlosigkeit weit von purer Entspannungsmusik entfernt ist. Zu befremdlich wirken die immer wieder aufblitzenden Sprachfetzen und abgehörter Funkverkehr, zu kühl klingen die Pianos und zu verstörend die durch den Verzerrer gejagten Synth- und Gitarrensequenzen. Es liegt eine Spannung über diesem Tape, die zu Beginn der B-Seite die Luft nahezu greifbar verdichtet. Was auch immer das Thema dieses zukünftigen Films sein mag, es verkörpert Bedrohung in einem Masse, deren Intensität das heute Vorstellbare bei Weitem übersteigt.

Ebenfalls filmreferentiell ausgerichtet ist das auf Alien Transistor erscheinende Album „Return“, welches als drittes Album der Formation Saroos binnen knapp 38 Minuten Spielzeit musikalische Bezüge zur unter Cineasten als Film Noir geschätzten Spielart der Kinokunst liefert und sich weitläufig zwischen PostRock, Easy Listening, Dub, Downtempotronica, Jazz und Experimentalismus mäandernd jeder weiteren Einordnung vollends zu entziehen weiss, dafür aber durchaus auch psychedelische Hippiemomente liefert. Damit entpuppt sich „Return“ als tolles Frühherbstalbum für heimische Kaminabende und natürliche Kaufempfehlung für alle, die eben solche zu schätzen wissen.

Einen Film der dunkleren Sorte lässt sich hingegen zu „The Word As Power“ drehen, dem neuen, jüngst auf dem kongenialen Label Blackest Ever Black erschienenen Album von Brian Lustmord a.k.a. Lustmord, der hier mit vermittels seiner ultraminimalistischen Drone- und Dark Ambient-Visionen und den isolationistischen Vocals von Aina Skinnes Olsen und anderen einen quasisakralen Soundtrack für dunkle Rituale in vernebelten Herbstnächten schafft, der von zartbesaiteten Seelen als durchaus geisterhaft unheimlich empfunden werden kann, dem Schreiber dieser Zeilen jedoch eben aufgrund dieser Ausrichtung als tiefgehendstes Album der letzten Monate gilt und genau aus diesem Grund jedem geneigten Leser dieser Zeilen schwer empfohlen sei.


Gastkolumne für Fazemag, Ausgabe 10/2013

Freitag, 11. September 2020

THERE'S MORE TO LIFE THAN...

…der Trend zum Digitalen. Denn auch wenn Spotify und sogar Youtube mittlerweile nicht nur auf Konsumentenseite immer mehr als ernstzunehmende Quelle für den täglichen Musikkonsum gelten und selbst Bruchteile von Minimalsthartgeldbeträgen labelseitig als mögliche Einnahme verbucht werden, kann auch das hochaufgelösteste .mp3-, .wav-, .ogg, .flac oder .whatever-File bestimmte Effekte der analogen Welt nicht ersetzen. Zum Glück.

So lässt sich beispielweise weder das der neuesten Veröffentlichung des österreichischen Labels Hirntrust Grind Media beiliegende (und natürlich ans Cover angelehnte) Aufnäh-Patch noch der ebenfalls in der Hülle befindliche ArtCard-Druck in seiner Stofflichkeit digitaliseren und auch die gefühlte Underground-Zuordnung einer pechschwarz belabelten 7“ mit grossem Innenloch ist nicht in Datenraten zu messen. Musikalisch liefern die Protagonisten dieser Splitsingle natürlich dem Label gerecht werdende Kaputtheit der allerersten Kategorie – Kenny Sanderson a.k.a. Facial Mess erforscht mit „No Intrinsic Value“ fies industriell verzerrte Varianten von mutiertem Grindstep während J. Randall als Sealteam 666 ein wahres Feuerwerk aus Noize, verzerrten Gitarren und flaksalvengleichen Breakcore- / Rhythm Industrial-Strukturen auf den freudig lächelnden Rezensenten abschiesst. Für mehr sonische Gewalt im Club!

Ein weiteres nicht zu unterschätzendes Erlebnis vorwiegend analoger Freude ohne Vorwarnung stellte das Eintreffen des mysteriösen Tape-Triplets „Virgin“ / „Seams / „Dierows“ aus der vermutlichen Feder von Christine Nogociella dar. Versehen mit einer Warnung des „Department Of Defense / Defense Investigative Service“ und ohne Absender- oder Labelangabe wird hier über gefühlte drei Stunden hinweg mit langsam flutenden Ambient-/Drone-Exkursionen, vermutlich illegal abgehörtem Radioverkehr und befremdlich weltraumkalten Klangpassagen die Zeitmatrix völlig ausser Kraft gesetzt und der geneigte Konsument schon nach wenigen Augenblicken in eine dunkle, vollkommen fremdartige Welt versetzt, in der sich Melancholie, Trauer und das Gefühl totaler Einsamkeit Auge in Auge gegenüberstehen. Verbreitete mensch diese Tapes als Dauerschleife über die grossen Radiokanäle dieses Planeten, wäre die Welt vermutlich binnen Tagen in Chaos, Lähmung und Vernichtung a la „Krieg Der Welten“ gestürzt.

Ebenfalls vollanalog und auf nur 50 handnummerierte Exemplare limitiert ist eine – und seit langen Jahren die erste – frisch erschienene 12“ auf dem längst verloren geglaubten Kultlabel XXC3, das mit dem „Telepathic Bubblevinyl Vol. 1“ seine mehr als berechtigte Auferstehung feiert. Vier Tracks aus dem Umfeld des von Dr. Walker begründeten Liquid Sky Berlin zwischen sexy Groove und einer der unmittelbaren Herkunft geschuldeten Deepness, die sich über die Laufzeit der Einzeltracks in einen hypnotisch-verspulten Trip verwandelt. Gerüchten zu Folge ist auch Dr. Walker selbst mit einem Track vertreten, während die anderen Produzenten dank vollkommener Informationsarmut dieser EP im verschwommenen Dunkel verborgen bleiben – ebenso wie die Bezugskanäle, denn der Zugang zum Besitz der „Telepathic Bubblevinyl Vol.1“ wird nur dem gewährt, der sich noch altgedienter Wege und Strukturen zu bedienen weiss. Im stationären Tonträgerhandel ist dieser Tonträger ebenso wenig erhältlich wie bei den üblichen Verdächtigen des Internet. Wer suchet, der findet und analog ist besser.

Gastkolumne für Fazemag, Ausgabe 09/2013

Mittwoch, 2. September 2020

THERE'S MORE TO LIFE THAN...

…Techno. Denn nach mehr als zwanzig Jahren der elektronischen Tanzmusik auf der Basis des allgegenwärtigen Viererfuß ist es zumindest in diesem Monat einmal an der Zeit, sich im Rahmen dieser Kolumne ausschliesslich und exklusiv der experimentellen Seite der nicht immer nur elektronischen Musik zu widmen.

Angefangen an dieser Stelle mit den Electronica-affinen Dubexkursionen eines Herrn namens Matthias Springer, der unter dem nicht ganz flüssig zu sprechenden Alias Aksutique dieser Tage seine „Notch Field E.P.“ auf Diametric vorlegt. Limitiert auf 300 handnummerierte 12“es vereint er unter diesem Namen drei Tracks gelagert zwischen dem Pole-Gefühl der ersten drei Alben, der stoischen, ambientösen Ruhe früher Senking-Veröffentlichungen, weichgezeichneten Hallfahnen und einer raumgreifenden, dreidimensionalen Tiefe, die das Verstreichen von Zeit anhand sich nur minimal verschiebender Klangsignaturen förmlich greifbar macht, ähnlich wie hochauflösende Deep Space Field-Photographie ein Gefühl für den immerwährenden Schaffensprozess innerhalb unseres Kosmos vermittelt. Durchaus wichtig und eine echte Bereicherung für jede gepflegte Vinylsammlung, nicht nur wegen des auf B2 versteckten Arne Weinberg Remix unter seinem Tarnnamen Valanx.

Ebenfalls deep und experimentell geht es auf dem in Griechenland beheimateten Label Inner Ear Records zu, welches sich dieser Tage mit Mechanimal's selbstbetitelten Debutalbum dem elektrosynthetischen Shoegaze widmet und sowohl campfire'esque Intimität als auch Suicide-angelehnte Distorsionsequenzen mit von tiefer Melancholie geprägtem Sprechgesang kombiniert. Auf diese Weise entsteht eine Klangwelt, die von staubigen Autobahnen in heruntergerockten Industriegebieten kündet, von harter Arbeit und den damit verbundenen Erfahrungen, vom Blues der Straße und von ölverschmierten Overalls. In dieser Gesamtheit sehr zu empfehlen zumal auch Depeche Mode mit ihrem jüngsten Album „Delta Machine“ eine nicht weit entfernte Ästethetik bedienen.

Gesang der ganz anderen Art liefert die noch junge, aber doch sehr talentierte Lisa Morgenstern, die nicht nur wirklich so heisst, sondern sich auch als eine der wenigen ihrer Generation an so selten gehörte Genres wie Theatrical Chanson und Dark Sonnet wagt und damit nicht nur auf der Bühne schwer zu beeindrucken weiss. Im Rahmen des WGT erschienen jüngst drei ihrer Werke als Beigabe zu Thomas Manegolds' limitierter Buch-EP „Vorgespräche Mit Goth“ in der Edition Subkultur. Mit ihren tiefgehenden, weitgehend Piano-getragenen Interpretationen ihrer Songs „Kannibalische Gourmet“, „Eskalation“ und „Lieber Tod“ zaubert Frau Morgenstern grosse Bilder auf die leere Leinwand des Kopfkinos und schafft dabei weit mehr Dramatik und Emotion als manch zu Unrecht geförderter Dramatik-Neuzugang der deutschen Theaterlandschaft. Diesen Gedanken konsequent zu Ende gedacht ersetzt das melancholisch-bittere „Lieber Tod“ mit seinen 329 Sekunden Laufzeit komplette Operetten und Musicals in Gänze und ist damit wohl die intensivste Veröffentlichung des laufenden Jahres. Wichtig.


Gastkolumne für Fazemag, Ausgabe 08/2013