Samstag, 30. Mai 2020

THERE’s MORE TO LIFE THAN...


... EDM. Auch wenn ich diesen Begriff zugegebenermaßen in den Früh- und Mitt-2000ern in Anlehnung an das weit verbreitete Akronym IDM („Intelligent Dance Music“; kleine historische Auslassung für die spätgeborenen Leser unter uns: die IDM-Mailinglist existiert seit 1993 im Internet und wurde ursprünglich ins Leben gerufen, um die Veröffentlichungen des Rephlex-Labels online zu diskutieren.) oft benutzt habe, um den musikalischen Ansatz meines eigenen Labels Intrauterin Recordings zu skizzieren: das Veröffentlichen tanzbarer, elektronischer Musik unabhängig von Genregrenzen und stilistischen Einschränkungen. Dabei hatte ich jedoch anderes im Sinn als die Deadmau5s und Guettas dieser Welt – Vielfalt. Kreativität. Unabhängkeit.

Mit diesen Stichworten ist auch der Output des legendären, in Manchester beheimateten Labels Factory Records grob und passend beschrieben, der dieser Tage via Strut Records zu neuem Leben erwacht. „FAC.DANCE 02“ versammelt 24 längst verschollene Perlen aus dem Backkatalog der Jahre 1980-1987 auf Doppel-CD , unter anderem die großartigen Quando Quando, A Certain Ration mit „Lucinda“, Sir Horatio’s nebelgrauen „Sommadub“ und natürlich Fadela’s „N’sel Fik“, dessen Introsequenz die gesampelte Grundlage von Lennie De Ice’s 1991er Breakbeat-Klassiker „We Are i.e.“ darstellt. Mehr Geschichtsstunde auf einmal geht kaum und schon deswegen sei „FAC.DANCE 02“ an dieser Stelle schwer empfohlen.

In ähnlicher Tradition steht auch die Debutveröffentlichung der obskuren Band Die Else Girls, jüngst erschienen als 7“ in einer Auflage von 300 Exemplaren via iRRland. Während die A-Seite mit der Originalversion zwischen Artschool, Dada, NDW und (No)Wave mäandert liefert Flavio Diners auf der Flipside filternden DiscoDeepHouse jenseits des derzeit üblichen Tempolimits und liefert dabei Anknüpfungspunkte zu Labels wie dem längst vergangenen Ladomat 2000, aber auch zum Ware-typischen Pop-Aspekt der Schaffhäuser’schen Prägung. Spannend und meines Wissens nach nicht über die regulären Vertriebskanäle zu beziehen.

Weiter geht es mit den Trentemöller & Visionquest Remixen für den David Lynch Song „Pinky’s Dream“, im Original zu finden auf dem Album „Crazy Clown Time“ und einer der zugänglichsten Songs auf dem Langspieler. Während Trentemöller mit seiner Neubearbeitung den Weg des dunklen ElectroWave wählt und der sehnsüchtigen Stimme von Karen O ein düster-treibendes Korsett schnürt, beschreiten Visionquest dunkle KrautDisco-Pfade im Sinne der letzten DC Recordings-Veröffentlichungen und schicken die Tanzfläche zu später Stunde auf einen spacig-kosmischen Trip. Sehr schöne 12“, aber trotz CutOut-Cover und gefühltem 180Gramm-Vinyl mit einem Ladenpreis von fast 14 Euro eigentlich zu teuer.

Gleiches gilt im Übrigen für die „Permissions Of Love“ 3-Track EP der wunderbaren Tropic Of Cancer, die im Laden mit ungefähr 18 Euro zu Buche schlägt. Dabei ist diese Platte mit einer Auflage von 500 Exemplaren plus zusätzlicher Nachpressung von 300 Stück in weißem Vinyl nicht einmal sonderlich limitiert und legt so den Verdacht nahe, das hier tatsächlich die Profitgier langsam durchschlägt. Auch wenn der stoisch dronige Wave-Ansatz mit Shoegaze-Attitude für Fans des Genres eine echte Offenbarung ist, lässt sich ein Preis wie dieser nur noch schwerlich rechtfertigen.

Nach einem durchaus fälligen Anstieg der Vinylpreise in den letzten 24 Monaten ist jetzt langsam ein Punkt gekommen an dem das Ende der Fahnenstange erreicht scheint und die Branche Gefahr läuft, dem noch von Vielen geschätzten Medium durch Drehen an der Preisspirale den Garaus zu machen. Das gilt es zu verhindern, oder?


Gastkolumne für Fazemag, Ausgabe 11/2012

Samstag, 23. Mai 2020

THERE’s MORE TO LIFE THAN...

...Standardformate - gerade weil es in unserer elektronischen Welt immer sehr geordnet zwischen 12“ und in Ausnahmefällen 7“ zugeht und selbst dem von mir geliebten 10“ Format noch fast etwas Exotisches anhaftet. Doch es geht auch anders.

Nachdem Sascha Müller den Formatfaschismus in diesem Jahr schon mit dem Revival von DIY-Tapeauflagen und – wir erinnern uns – in Hardcases verschraubten DVDrs aufs heftigste bekämpft hat, geht er mit seiner neuen „Booty Flop“-Serie noch einen Schritt weiter und holt mit 3.5“-Disketten ein weiteres Medium aus dem Keller, dessen Tod schon in den Neunzigern als vollends besiegelt galt und darüber hinaus nie als Medium zur Veröffentlichung von Musik geeignet war. Enthalten ist pro Veröffentlichung ein Track im 48 oder 64 kpbs aufgelösten mp3-Format, limitiert auf 10 Kopien pro Laufnummer. Erwähnenswert hier vor allem die Folge 1 der Serie mit einem obskuren MashUp von Michael Jacksons „Billie Jean“, das klingt als wäre es durch einen Telefonhörer an einer analogen Kupferleitung aufgenommen. Völliger Irrsinn in Hyper-LoFi.

Dagegen ist die ebenfalls aus der Müller’schen Feder stammende zweite Veröffentlichung auf dem Label Psychocandies schon fast gewöhnlich, steckt hier doch eine auf 100 Stück limitierte 7“ mit hypnotischem AnalogAcid statt in einem normalen Cover in einer semi-antiken 8“ Diskettenhülle. Sieht nicht nur gut aus, klingt auch so.

Viel weiter und über den Rand des verpackungstechnischen Wahnsinns hinaus geht in diesem Monat nur Turgut Kocer mit seinem Materiau-Label und der Veröffentlichung des fünfteiligen Gesamtwerkes „Eminenzen Gold“, das limitiert auf insgesamt nur 3 Downloads und 7 Doppel-CDrs erscheint. Letztere verpackt in einer verklebten 12“ Plastikhülle mit einem zusätzlich verpackten, mehrseitigen Manifest mit einem teilverbrannten Photo, Rollsplit, Kohlestückchen, Knäckebrotkrümeln und einer als Samplequelle dienenden alten Schellackplatte als zusätzliche Dreingabe. Ein großes FUCK YOU erstmal als Dank für die widerlich schwarz eingestaubten Finger beim Öffnen des Paketes und kein weiterer Kommentar zur Musik, da mein Laufwerk sich konsequent weigert mehr als ein paar Sekunden der CDrs abzuspielen, bevor verdächtige Brumm- und Knarzgeräusche aus seinem Inneren mich zum panikartigen Abschalten des Gerätes zwingen, um einen Totalschaden zu vermeiden. Die Vermutung liegt nahe, das die aufgebrachten Sticker eine Rotationsunwucht verursachen, deren Folgen zumindest für mein Laufwerk fatal sein könnten. Das ist nicht witzig.

Eine Verschiebung und Verzerrung des Zeit- und Realitätsformates hingegen betreibt Arthur Boto Conley’s Music Workshop mit der Veröffentlichung von drei großartigen Stücken des ominösen Musikers Clifford Trunk auf dem Label Travel By Goods, dessen vierte und vorliegende Veröffentlichung auf 333 Exemplare schneeweißer 12“es limitiert ist. Laut beiliegender Geschichtsverortung sind alle drei Titel einem unveröffentlichten Demotape ebenjenes in Deutschland geborenen Amerikaners entnommen, übergeben an Mr. Conley nach einer zufälligen Unterhaltung im Ratinger Hof der späten 80er. Mythenbildung? Oder gar doch ein futuristisches Genie? Der Techno- / House-Ansatz jener Stücke ist zumindest erstaunlich smooth, wunderschön arrangiert und im Falle des „551 (Dub)“ sehr nahe an SpeedGarage ohne cheesy Samples, während „418“ (Neo)Trance und „940“ säurehaltigen und extrem zurückgenommen ArmchairTechno Warp’scher Prägung in Reinkultur vorwegnehmen. Groß.

Eine weitere Verschiebung, diesmal der Hörgewohnheiten, steht den Fans des InFine-Labels mit dem Signing des Bassmusik-Duos Downliners Sekt bevor, die mit ihrer Single „Trim / Tab“ nicht nur ihr für 2013 geplantes Album ankündigen sondern dem Label Tür und Tor ins sogenannte „’ardcore continuum“ öffnen, beackern sie hier doch das Feld zwischen melancholischem Future Garage und verrauschtem, auf dem Prinzip des Antigroove aufgebautem Digital R’n’B, wobei natürlich auch der PostRave-Ansatz früher Burial-Werke nicht zu kurz kommt. Deep shit.

Gastkolumne für Fazemag, Ausgabe 10/2012

Sonntag, 17. Mai 2020

THERE’s MORE TO LIFE THAN...


...Platzmangel. Denn im Sinne der alten HipHop-Weisheit „Too many MCs, not enough mics“ heisst es in diesem Monat „Too many records, not enough space...“ um wirklich jeder Veröffentlichung gerecht zu werden.

Angefangen mit den Peaking Lights, die dieser Tage aufgrund ihres neuen Albums „Lucifer“ in allen Magazinen hoch gehandelt werden, aber auch mit ihrer 2011er Veröffentlichung „936“ immer noch so steil gehen, dass dieses Album mittlerweile mehrfach wiederveröffentlicht wurde und mittlerweile in sieben – sic! – verschiedenen Varianten via Not Not Fun Records und Weird World erhältlich ist. Psychedelisch verschwebt zwischen Campfire Folk, PostRock, Hippietum und Dub, versehen mit einer Portion Grundrauschen und Lo-Fi-Attitude für mich eine der Entdeckungen der letzten Wochen.

Dub-orientiert geht es weiter mit „Release The Hounds“, dem frisch veröffentlichten Album des Produzenten Da Grynch auf Necessary Mayhem, das die Möglichkeiten des digital erzeugten Roots Dub voll auslotet und vor allem mit „Our Dub“, „Can’t Take No More (Phaser Dub)“ und „Ravers“ grossartige Riddims erschafft, die in mir die Sehnsucht nach einem echten Dub-Clash in meiner Heimatstadt wieder aufleben lassen. Dub für die Welt!

Schon ein paar Wochen auf dem Markt, aber immer noch spannend für alle Chicago-, Dance Mania- und Footwork-Liebhaber ist das zweite Release des Labels Blank Mind, das zwei längst verschollen geglaubte Tracks des Produzenten DJ Clent wieder verfügbar macht. Gerade der Track „3rd World“ – 1998 auf der „100% Ghetto E.P.“ erschienen - greift dem Footwork-Movement um mehr als 10 Jahre vor und bietet eine gute Möglichkeit, den besten und wichtigsten Track des auf Discogs für 40+ Euro gehandelten Dance Mania-Originals in die Sammlung zu stellen.

Eine weitere Reisegelegenheit in wunderbar retro-futuristische Gefilde findet sich mit der jüngst auf Viewlexx erschienen „Replicant E.P.“ von Kid Machine, auf der sich insgesamt sechs vorlagentreue Replikationen des originären ItaloDisco-Sounds finden, für den sich der Schreiber dieser Zeilen fast immer begeistern kann. Und ja, es geht um Kitsch der allerersten Güteklasse während sich das ebenfalls dem klassischen Electro verschriebene Label Robotmachine Records mit der „Invasion From Mars“ des Dynamik Bass System vier Varianten reinrassigsten Breakdance- / Electro Bass-Sound auf schneeweissem Vinyl liefert und damit nicht nur den Oldskoolern unter uns eine echte Freude macht. Ganz gross und immer wieder gut.

Ausserdem neu und frisch ist der zweite Teil der Stiff Little Spinners-Serie auf Audiolith, die mit diesem 6-Track-Vinyl entgegen ihres ElectroPunk-Rufes erneut die Tiefen von Deep- und SlowHouse sowie (Neo)Cosmic erkunden und auch vor humorvollem Ska-/Polka-Minimal nicht haltmachen. Unter anderem involviert: Krink, Kalipo, Torsun Teichgräber und andere. Limitiert auf 300 Kopien und am zu beziehen über den labeleigenen Mailorder. Get!


Gastkolumne für Fazemag, Ausgabe 09/2012

Freitag, 8. Mai 2020

THERE’s MORE TO LIFE THAN...


...colour. Sagt zumindest der Blick in den trist trüben Hamburger Himmel und aus diesem Grunde beginnt der musikalische Rundblick in diesem Monat mit dem auf Dirty / Pschent veröffentlichenden Trio Tristesse Contemporaine, die auf ihrer ebenso betitelten Debut-LP nicht nur die Tristesse im Namen führen sondern mit Titeln wie „Empty Hearts“ oder „Hell Is Other People“ auch ganz schnell klarstellen wo der dunkelgraue PostPunk-/ (No)Wave-Hammer hängt. Geht in Ansätzen auch auf dem Indie-Dancefloor und erinnert in seinem musikalischen Variantenreichtum zuweilen an das bereits 2004 auf Dekathlon erschienene Nam:Live!-Konzeptalbum „The Testament: Sex, Scriptures And Rock & Roll“. Sehr empfehlenswert,

Grautöne vor allem im Sinne der inselartigen Zustände des ummauerten Berlin der Früh80er-Jahre sind auch das musikalische Thema der – ganz No Future-gerecht – Verbrannte Erde benannten Band, die mit „IV“ ihr eben viertes Album der Bandgeschichte vorlegt. Erschienen auf Major Label verbreitet die Truppe düstergraue Musik irgendwo zwischen Fehlfarben und charmant schrammelndem DeutschPunk, ohne jedoch in die Klischeefalle der „Schlachtrufe BRD“-Serie zu tappen. Hier gibt es Inhalt, durchdachte Texte und natürlich eine gehörige Portion Systemkritik, die jedoch subtiler daherkommt als mensch es vielleicht in diesem Zusammenhang gewohnt ist.

Eine andere Form von Farbverzicht übt das zur Zeit schwer angesagte Rawax-Label, interessiert sich einen Dreck für Covergestaltung und liefert statt dessen farbiges Vinyl in weissen Papierhüllen, stilecht als Whitelabel mit – farblich zum Vinyl passender – Stempelästhetik. So suggeriert mensch die Verbundenheit zum Untergrund, generiert im besten Falle einen kleinen Hype (gelungen!) und liefert mit der Katalognummer 10.2 von Unbroken Dub nach vergleichsweise schwachem Start auch endlich einmal entsprechendes Material ab. Zwei Tracks gibt’s auf der „Kosmos EP“ - einmal eher `troity verträumten Armchair Techno, mit dem sich im Idealfall auch die vertripptesten Raver glücklich nach Hause schicken lassen, während es auf der Flipside leicht angedubbed, mit kühlem Sci-Fi-Approach und vor allem mehr Druck zur Sache geht. Wer sich schon vor dem Hype die Sandwell District 010 ins Regal gestellt hat findet hier die ideale Anschlussplatte.

Trotz exzellent gestaltetem schwarz-weiss Grafikcover überhaupt nicht monochrom präsentiert sich hingegen die „Origo“ EP der schwedischen Produzenten Lisa & Kroffe auf dem eben dort beheimateten Label Monoscope und servieren nahezu kosmisch anmutende Synthesizermusik vom allerfeinsten. Weitgehend beatlos, angenehm kitschig und Ambient und die grossen Vorbilder wie Jean-Michel Jarre, Vangelis oder auch Tangerine Dream schauen hier und da auch gern einmal um die Ecke. Trotzdem: Lisa & Kroffe kopieren nicht sondern liefern gelungenes 2012er Update analoger Klangkunst und zeichnen akustische Landschaften im epischen Breitwandformat. Me likey.


Gastkolumne für Fazemag, Ausgabe 08/2012